Das Skandalon bleibt

UNGEHALTENE REDE Der Lebenslauf in modernen Gesellschaften war noch nie so vorgestanzt wie heute. Schuld daran ist eine von Schule produzierte Ungerechtigkeit – die hierzulande besonders groß ist

■  Jürgen Baumert, geb. 1941, ist der wichtigste deutsche Erziehungswissenschaftler, vielleicht sogar der bedeutendste deutsche Forscher der vergangenen Jahrzehnts. Baumert leitete den deutschen Teil der ersten Pisastudie, die im Jahr 2000 die Kompetenzen von 15-Jährigen international verglich. Keine andere Studie hat ein derartiges Echo ausgelöst, und Baumert hat ihr eine eigene Prägung gegeben. Baumert verschärfte den Pisaschock mit Begriffen wie „funktionale Analphabeten“ oder „Marienthalschulen“. Damit werden Schüler beziehungsweise Schulen bezeichnet, die minimalste Anforderungen an Bildung nicht erfüllen.

■  Zugleich gilt Baumert als Meister der verschwurbelten, alles und nichts sagenden Rede. Die taz druckt daher eine ungehaltene Rede des Mannes, der am Freitag emeritiert wird, eine aufrüttelnde Rede, die Baumert so nie gehalten hat, die dennoch ausschließlich aus originalgetreuen Baumert-Sätzen kompiliert wurde. (taz)

VON JÜRGEN BAUMERT

In den letzten Tagen haben Zeitungen viel darüber spekuliert, was ich seit der ersten Pisastudie denn nun über die deutsche Schule alles gesagt oder nicht gesagt hätte. Man nannte mich gar eine Sphinx. Dieser göttliche Vergleich schmeichelt mir natürlich. Aber er ist leider nicht ganz richtig. Ich habe mich viel klarer ausgedrückt, als dies immer behauptet wird. Und ich will gerne noch mal auf den Punkt bringen, was die zentralen Probleme des deutschen Bildungssystems sind, ehe ich in den Ruhestand gehe.

Über die Frage der sozialen Disparitäten im Kompetenzerwerb, wird letztlich im Unterricht entschieden. Das ist die erste Botschaft, die man nach den Pisastudien in unserem Land und in den Schulen verbreiten muss. Das bedeutet aber auch: Es gibt Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen Schulsystem, Unterrichtsgestaltung und schulischer Ungerechtigkeit, die bislang kaum erkannt oder sogar negiert werden. Entscheidend ist, ob ich intelligent unterrichte und mit Unterschieden umgehen kann.

Ganz allgemein gesagt: Wir brauchen einen Unterricht, der Verständnis vermittelt, zu Deutsch: Guter Unterricht setzt darauf, dass Schüler selbst geistig tätig werden. Verstehen erreicht man mit keiner Stoffhuberei. Da haben wir leider noch großen Aufklärungsbedarf.

Die Vorstellungen von gutem Unterricht sind ähnlich. Das zu verändern, ist die eigentliche Aufgabe. Denn der Unterricht unterscheidet sich nicht sehr zwischen Bremen und München. Vielleicht ist der bayerische zielstrebiger und traditioneller. Aber eins ist klar: Deutschland ist bereits jetzt das Land mit den homogensten Klassen.

Es lohnt sich, für dieses Phänomen einen Moment die grundlegende Choreografie des Unterrichts genauer anzusehen. Es ist der Stil des fragend-entwickelnden Unterrichts, vereinfacht gesagt: der Frontalunterricht. Dieser Unterricht kommt weder mit dummen noch mit klugen Fragen der Schüler zurecht: In der Schwierigkeit, mit beiden Frageformen gut umzugehen, liegt das zentrale Problem dieses Unterrichts: Sie erschwert den Umgang mit Heterogenität. Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb Lehrer an weiterführenden Schulen in Deutschland regelmäßig über zu heterogene Klassen klagen – obwohl sie die homogensten Lerngruppen der Welt haben.

Wir brauchen also einen professionellen Umgang mit der Leistungsheterogenität in der Klasse. Immerhin: Wir sind inzwischen einen Schritt weiter. Generell ist Sitzenbeiben schulpädagogisch wenig erfolgreich. Auch Abschulungen werden heute ganz anders beurteilt. Keine Schule kann darauf mehr stolz sein – einer der großen Fortschritte seit Pisa 2000.

Manchmal widerspreche ich mir selbst. Etwa, wenn ich erst sage, die Schule ist die große Gleichmacherin – um im selben Interview wenig später zu sagen: „Schule erzeugt Differenz.“

Dennoch sollte man verstehen, warum ich mich manchmal sibyllinisch geäußert habe. Ein häufiger Fehler vor allem der Pädagogen der Siebzigerjahre war die Vorstellung, die bessere Politik machen zu können. Politische und wissenschaftliche Rollen kann man aber gar nicht klar genug trennen.

Ich fürchte mich am meisten vor den Personen, die jetzt genau wissen, was zu tun ist. Es ist doch so, dass auch wir Wissenschaftler manchmal nicht genau sagen können, warum etwas ist, wie es ist. Zum Beispiel. Wenn man den Pisa-Befunden folgt, scheint der Einfluss des Elternhauses auf die Schulkarriere in den vergangenen sechs Jahren etwas zurückgegangen. Nur: Wir wissen nicht genau, woran das liegt.

Dennoch hatte die Pisastudie eine wichtige Bedeutung: Ohne Pisa könnten wir die wichtigsten Probleme unserer Schule nicht so gut beschreiben und lokalisieren. Und: Ohne Pisa wäre auch eine sachliche Diskussion über eine Vereinfachung des gegliederten Schulsystems undenkbar. Ein Land nach dem anderen setzt doch heute faktisch auf die Entwicklung zu einem zweigliedrigen Schulsystem. Und das ist auch gut so.

Was mich selbst verblüfft hat bei Pisa. Die soziale Segregation der Schulen ist bei uns sogar größer als in den USA. Ich habe nicht mit einer so starken Abhängigkeit der Leistungen eines Schülers von seiner Herkunft gerechnet. Es ist aber logisch: Da Leistung und Sozialschicht zusammenhängen und wir gleichzeitig Kinder nach Leistung auf verschiedene Schulformen verteilen, trennen wir Schüler früh nach sozialen Schichten.

Mich beschäftigt die Frage von Schule und Gerechtigkeit schon lange. Der Lebenslauf in modernen Gesellschaften war noch niemals so vorgestanzt wie heute. Zugespitzt: Verrate mir deinen Bildungsabschluss, und ich sage dir, welche Art von Beruf du ergreifst, wie viel du verdienst, wen du heiratest und wie gesund du sein wirst. Nur, wenn das so ist, dann stellt sich die Frage nur umso dringlicher: Wie viel Ungleichheit will sich eine Gesellschaft leisten – wie viel Ungleichheit kann sie ertragen.

Es gibt hier viele Befunde, dass es eine vom Schulsystem produzierte Ungerechtigkeit gibt und dass sie in Deutschland besonders hoch ist. Dafür lassen sich zwei Ursachen ausmachen: 1. Je früher differenziert wird, desto länger wirken die unterschiedlichen Milieus, die sich in den Schulformen herausbilden.

2. Die ungewöhnlich große Leistungsstreuung unter den Schülern in Deutschland wird zu einem nicht unerheblichen Teil in der Sekundarstufe I institutionell erzeugt – nach der Auslese der Schüler am Ende der vierten Klasse in unterschiedliche Schulformen. Oder kürzer gesagt: Eine frühe Auslese fördert die soziale Ungleichheit.

Eine frühe Auslese auf verschiedene Schulformen fördert die soziale Ungleichheit Wie viel Ungleichheit kann sich eine Gesellschaft leisten – und wie viel kann sie ertragen?

Dies war die wirklich aufregende Botschaft von Pisa 2000. Unser großes Problem besteht darin, dass etwa 20 Prozent eines Jahrgangs das Mindestziel verfehlen. Aber es geht noch viel weiter. Wir beobachten eine Art Marienthal-Effekt in bestimmten strukturschwachen Gebieten, also ein Zusammenwirken verschiedener negative Kräfte wie hohe Arbeitslosigkeit, leere öffentliche und private Kassen. Familien geraten so unter Druck. Es fällt ihnen schwer, frei über Bildung für ihre Kinder nachzudenken.

Diese Situation ist lokal und auch auf bestimmte Schulformen konzentriert. Wir finden in Deutschland Hauptschulen und auch Realschulen, die eine eindrucksvolle Kumulation von Belastungs- und Risikofaktoren haben. Dort sind 50 Prozent der Kinder Sitzenbleiber, 50 Prozent kommen aus Elternhäusern, in denen kein Deutsch gesprochen wird, 40 Prozent der Schüler haben Eltern ohne abgeschlossenen Beruf, 40 Prozent der Schüler haben in jüngerer Zeit Gewalterfahrungen gemacht. Man kann solche Schule verkürzt kritische Schulmilieus nennen.

Im Bundesdurchschnitt sind immerhin 16 Prozent der Hauptschulen kritische Schulmilieus. Aber in Berlin sind 60 Prozent der Hauptschulen so zusammengesetzt, in Hamburg 68 Prozent, in Bremen 95 Prozent, in Hessen 52 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 44 Prozent. Die Kumulation der negativen Effekte dort führt zu einer schwer zu rechtfertigenden strukturellen Benachteiligung einer quantitativ nicht zu vernachlässigenden Gruppe von Jugendlichen.

Mit anderen Worten: Unserem Schulsystem gelingt es nicht, die Lebensperspektive eines großen Teils unserer Jugendlichen zu sichern. Das ist das Skandalon unseres Bildungssystems. Und es bleibt.

Meiner Meinung nach darf man unsere Bildungsinstitutionen aber nicht aus dieser Verpflichtung entlassen: Wir müssen jedem jungen Menschen die Grundausrüstung mitgeben, die überhaupt erst die Chance gesellschaftlicher Teilhabe eröffnet.

Diese Rede enthält zu 95 Prozent Originalzitate Jürgen Baumerts, die aus Interviews und Reden zusammengestellt und geringfügig redaktionell bearbeitet wurden. Quellen: Baumert 2006: Schulstruktur und herkunftsbedingte Entwicklungsmilieus, didacta-Magazin 2010, Die Zeit 2002, 2006 und 2008, FR 2010, Pisa-E 2000, Spiegel 2010, taz 2002. Mitarbeit: Christian Füller