„Uns hat es auch nicht …

geschadet“, ist der letzte Kommentar, den ich von Eltern höre, wenn ihnen die Argumente für dieses Schulsystem ausgehen. Offensichtlich sterben die Kinder nicht durch die Schule, offensichtlich lernen sie zumindest früher oder später lesen und zählen. Aber rechtfertigt das ein Schulsystem, in dem es so viele Bildungsverlierer gibt wie kaum in einem anderen EU-Land?

Wieso werden diese Kinder nicht als Opfer unseres Systems gesehen? Wieso sind das nun mal unvermeidbare Einzelfälle? Wieso ist das offensichtlich den meisten Eltern egal?

Als meine Tochter anfing, Bauchschmerzen zu haben, wenn es um Schule ging; als sie anfing zu weinen, als das Lachen immer öfter ausblieb und als sie Angst hatte, weil sie ja eh zu doof sei, da machte ich mir Sorgen. Ja, weil ich sah wie mein Kind zugrunde ging. Sie quälte sich in die Schule, hatte keine Lust auf irgendwas und fühlte sich als Versager. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, dass diese Niederlagen doch den Kampf zu besseren Noten mit sich bringen würden. Meine Tochter dachte nicht daran, denn ihr Verhalten ist aus ihrer Sicht ja kein Problem; sie hasst es, etwas zu wiederholen, also vermeidet sie es. Sie lernt anders als die meisten Kinder, die in staatlichen Schulen erfolgreich sind. Für sie gibt es nur das selbstvergessene Spiel und den Flow, dann merkt sie die Wiederholung nicht. Alles was sie langweilt, vermeidet sie vehement. Es gab für mich keine Wahl, denn mein Kind war dabei, depressiv zu werden, sie war dabei, sich und ihr Selbstvertrauen, was ich so kostbar in ihr gehegt hatte, zu verlieren.

Ich bin sicher, so hart und herzlos können die meisten Eltern nicht sein, dass sie nicht sehen, wie die Kinder sich für dumm und unfähig halten, weil sie selbst so betitelt werden – und manchmal ist es noch schlimmer, was einige Kollegen hinter den Türen veranstalten. Ich bin mir sicher, so blind können die Eltern nicht sein, dass sie die Veränderungen ihrer Kinder übersehen, dass sie entdecken, wie ihre aufgeweckten, neugierigen Kinder sich langsam in müde, gelangweilte, bildungsgeplagte Kinder verwandeln, die auf nichts mehr Bock haben.

Meine Konsequenz war es, meiner Tochter direkt zu helfen, mit den Lehrerinnen diskutieren (was nie was brachte) und dann das Kind auf eine Freie Schule ohne Leistungsdruck zu geben (www.freieschulebochum.de). Da wurde dann in mühsamer und geduldiger Teamarbeit (Wir Eltern gemeinsam mit der Lehrerin!!!) wieder repariert, was vorher zerstört worden war.

Aber ich dachte zu dem Zeitpunkt noch, dass die Schule für die Kategorie „Kind“, wie meine Tochter sie besetzt, nicht funktioniert. Sie ist einfach kein bisschen ehrgeizig, lebt in ihrer Traumwelt und vergisst eben alles um sich herum, wenn sie die Chance hat (inzwischen kann sie das steuern). Ich dachte, mein Sohn, der extrem ehrgeizig und sehr regelwillig ist, wäre doch für dieses System perfekt geeignet. Und ich gab ihn auf eine staatliche Grundschule, die sogar einen tollen Ruf hatte (die auch unabhängig davon wirklich gute Arbeit leistet). Ich hatte nun das Glück, dass die Lehrerin meines Sohnes sehr paragraphentreu und sehr streng in ihrer Beurteilung zugleich war. Selbst Schüler, die in anderen Klassen mit Bestnoten brilliert hätten, konnten sich bei dieser Kollegin nur gut über Wasser halten, denn es ging schon um das Abitur ab der 2. Klasse. Ich sprach mit den Eltern, die das zwar oft nicht so gut fanden, aber im Grunde auch nicht gegen die Hausaufgabentürme waren. Und der hohe Leistungsdruck? Den müssten die Kleinen eben leider (!) aushalten, aber sie sollen ja auch alle Abitur machen.

Erste Probleme tauchten bei uns auf, als die Lehrerin meines Sohnes Versuche, alles möglichst akkurat zu machen mit zu großer Langsamkeit, Unkonzentriertheit und Faulheit verwechselte. Anmerkung: Viele Kollegen meinen ja, dass Kinder, die nicht pausenlos einen Stift über das Papier schieben und in die Luft gucken, nur nicht anfangen wollen zu arbeiten. Die meisten – so ist meine Erfahrung – denken dann nach. Bei einer Klassenarbeit radierte er das richtige Ergebnis weg, damit er es ordentlicher nochmals schreiben konnte. Damit war das Ergebnis nicht schöner und er wurde unzufriedener und … er verlor Zeit. Zeit, die er für die letzte Aufgabe gebraucht hätte, für die es die meisten Punkte gab. Bis dahin hatte er alles fehlerlos, aber ihm fehlten die Punkte und so gab es eine vier, denn sie maß mit Maßstäben am Gymnasium, damit sich die Kinder daran direkt (2. Klasse) gewöhnen können. Ich war total fassungslos. Rannte Sturm, aber … die Kollegin darf so bewerten, sie hat das alles abgesichert in den Richtlinien. Ich saß beim Schulleiter, erklärte ihm, dass mein Sohn so zusammenbricht und er erklärte mir, dass er eben die nächste Arbeit besser schreiben würde. Aber mein Sohn verlor sein Vertrauen in das System und blockierte schlicht die erwartete Leistung, indem er nicht mitschrieb, obwohl er anwesend war. Gleichzeitig hielt er sich in Deutsch für eine totale Niete. Bei Hausaufgaben heulte er, er wolle sich umbringen, weil er das nicht kann. UND, er kann es – wie ich als Deutschlehrerin anmerken darf. Ich tat, was ich tun musste, diesmal nicht nur, weil ich dachte, dass mein Kind eben nicht in die passende Kategorie fällt, sondern weil dieses Schulsystem unsere Kinder vergiftet. Bei meiner jüngsten Tochter hab ich dann kein Experiment mehr gewagt, denn ich will, dass sie ihre Lust und Neugier und ihre Selbstsicherheit behält.

Zu dieser Klasse meines Sohnes: Inzwischen habe ich von einer Mutter erfahren, dass sie ihren Sohn auch lieber auf eine alternative Schule unterbringen will, weil ihr das Kind zerbricht. Mit einem anderen Kind hat mein Sohn noch zwischendurch Kontakt, dieser Junge wird immer stiller, sagt die Mutter.

Meine Geschichte ist kein Einzelfall, ich habe aber schnell reagiert. Gut, ich bin ausgebildet und kann vielleicht besser hinter den Vorhang der Richtlinien und des Lehreralltages blicken. Doch gerade andere Lehrer – meine Kollegen – auch und dennoch bringen sie ihre Kinder mit Vorliebe und durchgepeitscht durch ein Gymnasium. Bevor meine Große in der Schule „versagte“, sah ich keinen Anlaß, dass System derart in Frage zu stellen, wie ich es heute mit aller Kraft tue.

Auch richtig ist, dass wir uns diese Schule leisten können – gut, ein Eigenheim haben wir dafür nicht und lange Zeit sind wir höchstens mit Selbstversorgungsferienwohnungen auf einem Bauernhof zu Gast gewesen und nannten dies „Urlaub“.

Ein Schulhüpfen tut Kindern zudem nicht gut, und die Plätze von Schulen in Freier Trägerschaft sind begrenzt, aber es gibt zu diesem Schulsystem Alternativen, wenn man das als Eltern will. Und da liegt die Crux. Wenn es nur gewünscht würde.

Und dann höre ich von Eltern, dass es kein Problem für sie sei, wenn ihre Kinder sich eben etwas mehr anstrengen müssten. Für diese Eltern gibt es keinen anderen Abschluss als das Abitur. Und eine vier in Deutsch in Klasse 6 ist ein großes Risiko, dem man nur mit konsequentem Nachhilfeunterricht und Konsumverboten entgegenwirken kann. Lernpausen, Entwicklungsphasen, mehr als kognitive Leistungen zählen eben nicht.

Wie also die Elternschaft hinter sich bringen, wenn sie diese Einstellung haben? Wenn ich mit Eltern spreche, komme ich mir oft vor wie ein Reversispieler: habe ich sie gerade so weit, dass ihnen die Argumente ausgehen, dass sie meinen folgen können und ich sie für meine Idee gewinnen konnte, so kommt irgendetwas von außen und sie sind wieder systemkompatibel – umgedreht im nächsten Spielzug.

Und man sollte meinen, dass sie alle durch diese Schule mit Schmerzen gingen – bis auf 30 % vielleicht; aber das System funktioniert weiter, weil sie sich als einzige Versager sehen (wie auch mir immer gesagt wurde, dass nur meine Kinder diese Schwierigkeiten hätten, dass sie noch nie solche Kinder gehabt hätten und dass ihnen das auch ein Rätsel ist. Psychische Untersuchungen, medikamentöse Einstellung und dergleichen ist mir empfohlen worden seitens der Kollegen.)

Unsere Klasse – als ich zur Gesamtschule ging – war ebenso zusammengesetzt wie alle anderen: Streber, Alternative, Spaßvögel, Schönheitsqueens, Dorftrottel, coole Jungs (Alphatierchen), Farblose, Durchschnitt. Und ich – Streberposition mit dem Titel „Professor“ – wurde nicht gerade geschätzt von den coolen Jungs, die ich nur für saublöde Dummköpfe hielt. Halten musste. Schließlich war ich klug und angepasst an das System „Lehrerschau“. Klassentreffen 2009: Einer der „coolen Jungen“ entschuldigt sich bei mir, für den Spott. Seine Tochter – ausgerechnet seine – wird stark gemoppt. Er weiß keinen Rat. Ich gebe ihm als Lehrerin ein paar Tipps und höre ihm zu – zum ersten Mal. Ich höre Eltern immer zu, weil ich „Eltern“ bin. Und ich stelle fest, er ist kein hirnloser Idiot. Er macht sich Sorgen, er hat einen guten Beruf, hat sich weitergebildet, hat ein Leben wie ich es habe. Und ich denke: Unser Schulsystem macht Menschen kaputt, aber es gibt welche, die trotzdem überleben, die sich ans andere Ufer – dem Erwachsenensein – retten können.

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